Worte auf die Goldwaage
Victor Klemperer Die Sprache des Dritten Reiches. Beobachtungen und Reflexionen aus LTI
Für eine diskriminierungsfreie Sprache braucht es ein Bewusstsein über die Macht von Worten. Victor Klemperers Die Sprache des Dritten Reiches. Beobachtungen und Reflexionen aus LTI zeigt, welche Deutungshoheit und Historie alltäglichen Begriffen innewohnt und welche Folgen deren Gebrauch nach sich ziehen kann. Ein philologischer Klassiker, der nahtlos an brandaktuelle Debatten zu inklusiver Kommunikation anschließt.
Victor Klemperers berühmtes Buch Die Sprache des Dritten Reiches. Beobachtungen und Reflexionen aus LTI ist 1947 erschienen, also zwei Jahre nach Kriegsende. Die Aufzeichnungen dazu hat Klemperer allerdings schon während des Krieges unter Lebensgefahr angefertigt. Trotz der abenteuerlichen Entstehungsgeschichte kann man sich heute fragen, weshalb man dieses Buch lesen sollte. Mit der Sprache des Dritten Reiches haben wir doch nichts mehr zu tun, oder? Das stimmt zwar insofern, als bestimmte historisch belastete Vokabeln der Nazizeit aus unserem Sprachgebrauch verschwunden sind. Diese ideologisch geprägten Vokabeln sind sozusagen geächtet.
Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag.
Aber darum geht es bei Klemperers Betrachtungen gar nicht in erster Linie. Der Autor führt uns stattdessen immer wieder vor Augen, wie Sprache und Denken zusammenhängen. Und wenn man die Sprache anderer unreflektiert übernimmt, dann passiert es leicht, dass man auch deren Denkschemata ungewollt übernimmt und reproduziert. In diesem Zusammenhang spricht Klemperer von der Vergiftung der Sprache, von „winzigen Arsendosen“, deren „Giftwirkung“ man gar nicht auf Anhieb bemerkt.
Hier wird die Aktualität und Brisanz des Buches besonders deutlich. Denken wir nur an Debatten um diskriminierungsfreie Sprache, an die von interessierter Seite immer wieder lancierte Behauptung, dass man in diesem Land vieles nicht mehr sagen dürfe. Man denke andererseits an identitätspolitische Debatten unterschiedlicher politischer Lager, die ja ebenfalls sprachlich ausgefochten werden. Man denke an Political Correctness und Cancel Culture. Von alledem konnte Klemperer natürlich noch nichts wissen. Aber er zeigt uns an zahlreichen Beispielen auf, wie Sprache unser Denken formt, wie wichtig es ist, sprachliche Formulierungen auf das zugrunde liegende Denken zu überprüfen – mithin Sprachkritik zu betreiben.
Worte können sein wie winzige Arsendosen; sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu haben, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.
Klemperer ist allerdings nicht so naiv, dass er dem einzelnen Sprecher bestimmte Wörter verbieten will. Er sieht nämlich, dass die „Giftwirkung“ bestimmter sprachlicher Mittel erst dann einsetzt, wenn sich der vergiftete Sprachgebrauch durchsetzt, wenn er zum herrschenden Sprachgebrauch wird. Ein leider wieder aktuelles Beispiel: antisemitischer Sprachgebrauch. So bemerkt schon Klemperer, dass oft Unwissen im Spiel ist, wenn etwa jüdisch nicht als Religionszugehörigkeit, sondern als Nationalität oder gar Rassenzugehörigkeit (miss)verstanden wird. Wenn sich Unwissenheit mit rassistischem Sprachgebrauch paart, dann kann kein Jude Deutscher, kein Deutscher Jude sein. Auch heutzutage muss man gar nicht lange suchen, um durch solche Argumentationsfiguren die Aktualität der Aufzeichnungen Klemperers bestätigt zu bekommen.
Klemperers Notizen in Die Sprache des Dritten Reiches zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie nicht in oberlehrerhaftem Ton vorgetragen werden. Vielmehr sind sie eingebettet in die Lebenswirklichkeit des Autors, der aus zahlreichen Alltagsbeobachtungen und der Lektüre zeitgenössischer Quellen ein Sprachpanorama zeichnet, das – oberflächlich betrachtet – vielleicht gar nicht so schlimm erscheint. Bei näherer Beobachtung erweist es sich hingegen als bedrohliche Ausgrenzung und Verächtlichmachung Andersdenkender und -sprechender.
[...] der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang, und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden
Wer der Überzeugung ist, dass antidemokratische und rassistische Tendenzen immer auch sprachlichen Niederschlag finden und durch sprachliche Mittel befördert werden, der wird bei Klemperer reichhaltiges Material finden, das zu einer reflektierten Auseinandersetzung mit Sprache anregt und ermutigt.
Ein Beitrag von Thomas Niehr (Professor am Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft an der RWTH Aachen)
Der Autor
Victor Klemperer (1881–1960), Sohn eines Rabbiners, wurde als Professor für Romanistik von den Nazis 1935 in den vorläufigen Ruhestand versetzt. Während der Kriegsjahre legte er mit seinen Tagebüchern den Grundstein für LTI (Lingua Tertii Imperii). Mit viel Glück überlebte er mit seiner Frau den Feuersturm in Dresden und die drohende Deportation. In der Nachkriegszeit verfasste er sein LTI, das 1947 erschien und schnell bekannt wurde. Klemperer lebte bis zu seinem Tode in der DDR, für die er sich nachdrücklich engagierte.
Der Herausgeber
Heinrich Detering, geboren 1959 in Neumünster, studierte Germanistik, Theologie, Skandinavistik und Philosophie in Göttingen, Heidelberg und Odense. Heute ist er Professor für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Direktor des Zentrums für komparatistische Studien in Göttingen.