Dekonstruktion eines Helden
Tell ist das neueste Werk von Joachim B. Schmidt, das im Programm der Büchergilde erschienen ist. Im Interview mit Marlen Heislitz und Julia Heller spricht Joachim B. Schmidt über klassische Helden und ganz normale Leute.
Immer wieder, und auch heute, rettet uns der durchschnittliche Bürger! Die Arbeiterfamilien haben uns aus diversen Finanzkrisen geschuftet, das Spitalpersonal hat uns aus der Pandemie gerettet. Das sind wahrhaftige Helden!
Der berühmte Apfel, die „hohle Gasse“, Schillers Drama, bekannt in jedem Klassenzimmer von Hamburg bis Luzern – lieber Joachim, warum noch einmal Wilhelm Tell und warum jetzt?
Na, weil es eine gute Geschichte ist und weil es Spaß macht, sie erzählt zu bekommen! Gute Geschichten werden nie alt, und sie sind letztendlich auch immer aktuell, was sich in diesem traurigen Fall – die russische Invasion in die Ukraine, das abscheuliche Verhalten der Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung – einmal mehr bewahrheitet. Wilhelm Tell ist also eine Figur, die uns, seit sie erzählt wird, beschäftigt und bewegt. Die Geschichte wurde aber nie so erzählt, wie ich sie gerne gehört hätte.
Du hast dir die Geschichte also selbst erzählt?
In gewissem Sinne, ja. Ich schreibe Bücher, die ich selber gerne lesen würde. Wilhelm Tell wirkt in seinen vielen Versionen meistens unglaubhaft: Ein Held, der einfach alles kann, wohlgenährt und muskulös ist, ein Meisterschütze, ein Freiheitskämpfer, ein guter Vater obendrein, er bewegt sich so geschickt in den Felsen wie auf dem stürmischen See, kurzum, ein Übermensch. Langweilig. Er ist unglaubhaft und von uns distanziert. Darum wollte ich einen greifbaren Wilhelm Tell beschreiben und der Tragik seines Überlebenskampfes gerecht werden.
In deinem Roman Tell ergibt sich die Story aus der Kombination vieler Sprecher:innen und ihren jeweiligen subjektiven Perspektiven. Was inspirierte dich zu diesem multiperspektivischen Aufbau?
Das habe ich einem isländischen Schriftsteller-Kollegen abgeschaut: Einar Kárason. Er hat seine vier Sturlungen-Bücher in dieser Form geschrieben. Feindesland war das erste in dieser Reihe. Darin geht es um den komplexen Bürgerkrieg, den die Isländer im 13. Jahrhundert durchlitten. Dadurch, dass Kárason ganz viele Protagonisten zu Wort kommen lässt, fühlt man sich in die Geschichte hineinversetzt, fast so, als säße man ihnen gegenüber, während sie einem die Geschehnisse erzählen. Ich habe diese Form nun für Tell angewendet, schreibe aber im Präsens, wodurch die Geschichte im Moment geschieht und dringender wird. Die Protagonisten führen innere Dialoge.
Wilhelm Tell erscheint bei dir als normaler Typ mit Ecken und Kanten statt als strahlender Held. Wieso liegt für dich das Besondere gerade in der Durchschnittlichkeit?
Ich will, dass man sich als LeserIn mit den Figuren identifizieren und mit ihnen mitfühlen kann. Ich will Nähe schaffen. Ein durchschnittlicher Held kann auch mal sein Ziel verfehlen. Nur so fiebert man wirklich mit. Das gilt nicht nur für Wilhelm Tell, sondern auch für seinen Gegenspieler Hermann Gessler. Er ist in meinen Augen kein simpler Bösewicht, sondern ein komplexer Mensch, der es nur gut meint. Sein Ende wird dadurch tragisch.
Ist „der Held“ denn noch zu retten? Brauchen wir ihn noch? Und: Wer rettet uns heute?
Immer wieder, und auch heute, rettet uns der durchschnittliche Bürger! Die Arbeiterfamilien haben uns aus diversen Finanzkrisen geschuftet, das Spitalpersonal hat uns aus der Pandemie gerettet. Das sind wahrhaftige Helden! Und, wie man eben leider heute sieht, in der Ukraine gibt es ganz viele Helden. Und damit meine ich nicht nur die kämpfenden Frauen und Männer, sondern alle, die in eine unmögliche Situation geraten und sich dagegen wehren, ganz egal, ob sie kämpfen oder weglaufen, sich für andere opfern oder ihre eigene Familie in Sicherheit bringen wollen. Sie alle sind Helden, sie alle sind Tell.
Wo siehst du die Tell-Saga in den kommenden Jahren? Vielleicht als gigantische Serie auf Netflix?
Genau, und Quentin Tarantino führt Regie, Leonardo DiCaprio als Wilhelm Tell! Nein, Quatsch, natürlich nicht – wobei ich mich nicht beschweren würde, wenn es dazu käme. Ich fände es natürlich schön, wenn sich Tell ganz unmerklich, ganz frech in die Klassiker einreihen würde, als wäre er neben Schiller und Frisch schon immer da gewesen. Ich hoffe, dass er bei vielen die Freude an dieser tollen Schweizer Saga weckt und sich einer neuen Generation erschließt. Ganz egal, ob Netflix eine Verfilmung macht oder nicht – Literatur darf auch Spaß machen, Kopfkino kann manchmal sogar bildstärker als Netflix sein. Darum müsste mein Tell, nebst Schiller natürlich, Pflichtlektüre an den Gymnasien werden, von Hamburg bis nach Luzern und darüber hinaus!
Die Fragen stellten Marlen Heislitz und Julia Heller.
Der Autor
Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Er ist Autor mehrerer Romane und diverser Kurzgeschichten, Journalist und Kolumnist. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.