Die „verblüffende Bedeutungslosigkeit“ Hitlers
Dorothy Thompson berichtet als US-amerikanische Journalistin seit Ende der 1920er-Jahre aus Deutschland und bekommt 1932 Gelegenheit, ein Interview mit Adolf Hitler zu führen. Daraus entstand der hervorragend beobachtete Reportage-Essay Ich traf Hitler!
Sieht oder hört man sich heute Reden Adolf Hitlers an, vermittelt sich wenig von der Faszination, die Zeitgenoss:innen empfunden haben müssen. Was aus der gegenwärtigen Perspektive vor allem ein überhitztes, pathetisches Lamentieren ist, akustisch auf seinem Höhepunkt kaum noch verständlich, galt vielen damals als mitreißend. Die US-amerikanische Journalistin Dorothy Thompson, hierzulande bisher wenig bekannt, bekam 1932 die seltene Gelegenheit, mit Adolf Hitler ein Interview zu führen. Noch war er nicht Reichskanzler, aber aufmerksamen Beobachter:innen wie Thompson schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis Hitler an die Macht gelangte.
Ich traf Hitler! ist ein ausgesprochen hellsichtiger Reportage-Essay, der heute besonders lesenswert ist, weil er zeigt, was man bereits zu jenem Zeitpunkt über Hitler und seine Ziele wissen konnte. Das Interview selbst nimmt im gesamten Essay nur wenig Raum ein, denn: „Man kann mit Adolf Hitler kein Gespräch führen“. Von der direkten Gesprächssituation verunsichert, verlegt sich Hitler bald darauf, in einen seiner aufgebrachten Monologe zu flüchten, ohne Thompson auch nur anzusehen. Auf ihre Fragen zur deutsch-französischen Beziehung oder seinen politischen Plänen für die deutsche Arbeiterschaft erhält sie wenig konkrete Antworten – das Interview gerät zur Nebensache. Thompson zeichnet im Folgenden Hitlers politischen Werdegang bis zur Gegenwart 1932 minutiös nach; ein fotografischer Teil porträtiert wichtige Akteure der nationalsozialistischen Bewegung und der Weimarer Zeit. Sie sieht in Hitler „die Verkörperung des kleinen Mannes“ und darin die Ursprünge seines Erfolgs.
Hellhörig wird man heute, wenn Thompson Hitlers Behauptung zitiert, „die Funktion der öffentlichen Rede bestünde nicht darin, die Wahrheit zu sagen“. Vielmehr geht es darum, die Massen zu emotionalisieren, dafür ist jede zweckdienliche Lüge geeignet. In unserer „postfaktischen“ Zeit und angesichts global seit Jahren erstarkender rechtspopulistischer Bewegungen lesen sich Thompsons Beschreibungen erschreckend aktuell. 1934 wird Thompson wegen ihrer „deutschfeindlichen“ Artikel ausgewiesen. Sie selbst nennt es „Blasphemie“ und kommentiert: „Mein Vergehen war, dass ich dachte, Hitler sei doch nur ein gewöhnlicher Mensch.“ Der vorliegende Band enthält außerdem eine Reportage aus den Wochen vor ihrer Ausweisung und kurz nach den Röhm-Morden, die im Originaltext von 1932 nicht enthalten war.
Patriotismus ist die einfachste Form der Selbstüberhöhung.
Ich traf Hitler! ist ein wertvolles, in seiner Klarheit erschütterndes Zeitdokument. Thompson benennt klar die Rolle des Antisemitismus in Hitlers Programm. Sie macht deutlich, dass der Plan der Nationalsozialisten die Abschaffung der Demokratie mit den Mitteln der Demokratie ist. Man sollte ihre klugen Beobachtungen heute ganz genau lesen.
Sophie Weigand ist gelernte Buchhändlerin und Kulturwissenschaftlerin. Sie lebt in Lübeck, arbeitet als freie Redakteurin und bloggt auf literaturematters.de.
Die Autorin
Dorothy Thompson (1893–1961) war eine Pionierin des US-amerikanischen Journalismus. Mit 26 Jahren ging sie nach Europa, um als Reporterin von der zionistischen Bewegung und vom irischen Unabhängigkeitskampf zu berichten. Sie interviewte Leo Trotzki, Kemal Atatürk und Sigmund Freud. Das Time Magazine erklärte Thompson 1939 zur einflussreichsten Frau in den USA – neben der Gattin des Präsidenten.
Die Übersetzerin
Johanna von Koppenfels, geboren 1964, hat Anglistik und Hispanistik in Berlin, London und Salamanca studiert und verschiedene Anthologien herausgegeben. Sie lebt heute als freie Lektorin und Texterin in Berlin.